Jean Allouch

Über die Treue in der Liebe

aus Jean Allouch: L’amour Lacan, Über die Treue in der Liebe, S. 75 – 78, EPEL, Paris 2009, übersetzt von Johanna Vennemann-Bär, Textherstellung Eckhard Bär

Im Seminar vom 8. Juni 1955(2) wird es bei Lacan um die Treue in der Liebe gehen. Eine heikle Frage, vor allem, wenn, wie man wissen kann, die Untreue ganz einfach … nicht existiert, nie ist jemand irgendjemandem untreu. Wenn das, was man bei einem Paar eine Untreue nennt, stattfindet (und ohne Zweifel trifft das auch für diejenigen zu, die von gewissen Leuten als die „Untreuen“ bezeichnet werden), sind die geforderten Bedingungen der Treue nicht mehr gegeben. Auf keinen Fall ist es die Untreue, die das Band bricht; im Gegenteil die so genannte Untreue wird deshalb möglich, weil etwas im Band der Liebe bereits zerrissen ist. Die Untreue kann den Bruch der Liebe hier manifest machen, sie verursacht ihn nicht. Was also ist es, was gebrochen gewesen sein wird? Man wüsste nur zu antworten: der Liebespakt, auch wenn Lacan an diesem 8. Juni 1955 bezüglich der Liebe wieder vom „symbolischen Pakt“ spricht. Ovid legte in „Die Kunst zu lieben“ eine große Vorsicht an den Tag, als er schrieb, dass es für den Verrat der Liebesschwüre ein Verzeihen gäbe: „Jupiter lacht aus der Höh’ ob der falschen Schwüre Verliebter, lässt vom Aeolischen Süd wehn in die Lüfte den Schwur.“(3) Wie kann man die Tatsache übersehen, dass das treueste Wesen, das es gibt – soweit man hierin einigen zustimmen mag – der Hund, derartige Schwüre nicht ausspricht? Übrigens garantiert nichts, dass ein Liebesschwur einer Ausübung der Liebe oder auch nur einer Liebeserklärung entspricht. Man hört den Unterschied der subjektiven Position: jemandem zu sagen „Ich liebe dich“, ist vom Standpunkt des Wahrheitsgehalts spürbar weniger suspekt, als zu äußern „Ich werde dich immer lieben“. Warum? Weil das „Ich werde dich immer lieben“ eine Zutat – die Bedingungslosigkeit – in die Liebe einführt, die sie in Essig umschlagen lässt. Das ist offensichtlich, wenn es um die Liebe zu einem Kind geht. Wenn ein Elternteil sich einbildet, es wäre notwendig, seinen Sprössling bedingungslos zu lieben, dann wird in der Reaktion darauf eben dieser Sprössling sich regelmäßig immer tyrannischer verhalten. Es geht nicht darum der Liebe, sondern deren Bedingungslosigkeit eine Grenze zu setzen. Bedingungslos geliebt zu werden hieße: Schlecht geliebt zu werden.

Mit welchen Begriffen geht Lacan das Problem der Treue in der Liebe an? Indem er von der Treue zum gegebenen Wort spricht, fragt er sich: „Wie lässt sich jenes Wort rechtfertigen, das so unvorsichtig gegeben wird und das streng genommen, woran alle ernsthaften Geister niemals gezweifelt haben, unhaltbar ist?“(4)

Mit anderen Worten, weder der Pakt, noch der Schwur kann die Treue in der Liebe erklären. Lacan versucht hier nicht von dem zu sprechen, was man als eine gezwungene Treue bezeichnen könnte, jene Modalität der Treue, die von etwas anderem, als von dem Liebesband selbst abhängt, z. B. wenn ein heterosexuelles Paar seine Liebe in die Ordnung der apostolisch-römisch-katholischen Kirche eingeschrieben hat; – wobei die Liebe sich in der sakramentalen Form der Ehe verdoppelt, um der Liebe Christi für seine Kirche analog zu sein; – ein solches Paar könnte nicht untreu sein. Eine weltliche Version dieser Überdeterminierung der Liebe kommt zu Stande, wenn die Liebe das, was die Leute sagen werden im Auge hat, wenn die Treue nur aus der Angst vor der Schande gehalten wird, die ihr Bruch durch das „was man sagen wird“ hervorrufen würde. Auch da ist die Treue nicht in der Liebe verankert. Im Gegensatz zu dieser gezwungenen Treue, nennen wir jene Treue die nur aus der Liebe hervorgeht unbeschwerte Treue/ FIDELITE LEGERE. Diese Treue ist selbstverständlich; sie ist nicht schwer, ist keine Last; sie wird wie ein Glück gelebt, sie weiß sich fast nicht.

Diese Treue gilt es zu erklären. Lacan schiebt dazu zunächst eine erste und falsche Erklärung beiseite: „Versuchen wir, die romantische Illusion zu überwinden, dass es die vollkommene Liebe ist, der ideale Wert, den jeder der Partner für den anderen gewinnt, der das menschliche Treuegelöbnis(5) stützt.“(6) Genauso wenig wie vom Pakt hängt die Treue davon ab, dass der Partner die ideale Figur des Geliebten(7) verkörpert. Diese Bemerkung ist gesunder psychoanalytischer Menschenverstand. Die Psychoanalyse hält sich von solchem Idealismus fern (der bei Ortega y Gasset vorkommt, bei dem der Geliebte der Träger mindestens eines Zuges von Vortrefflichkeit/ Exzellenz sein muss). Lacan schlägt eine andere Erklärung der Treue vor, die nicht von dem Geliebten, seinen wunderbaren, durch die Liebe selbst überhöhten Qualitäten, sondern vom Liebenden abhängt. Sicherlich taucht hier wieder der symbolische Pakt auf, der jedoch ein ziemlich seltsamer Pakt ist, ein „Pakt“, der nicht nur zwei Subjekte bindet. Wie kann man also in der Psychoanalyse von der Treue in der Liebe sprechen? Antwort:

„Proudhon (…) findet die Lösung in etwas, das nur als ein symbolischer Pakt angesehen werden kann. Versetzen wir uns in die Perspektive der Frau. Die Liebe, die die Frau ihrem Mann gibt, zielt nicht auf das Individuum, nicht einmal auf das idealisierte (…) sondern auf ein Wesen jenseits (Hervorhebung J. Allouch) Die streng gesprochen8 heilige Liebe, jene, die den Bund der Ehe konstituiert, geht von der Frau auf das, was Proudhon tous les hommes/alle Männer nennt. Ebenso zielt die Treue des Gatten durch die Frau hindurch auf toutes les femmes/ alle Frauen.

(…) das ist keine Quantität, sondern um eine universale Funktion. (Hervorhebung J. Allouch) Es ist der universale Mann, die universale Frau, das Symbol, die Inkarnation des Partners des menschlichen Paars.“(9)

Wenn in der Tat eine Frau für alle gilt, wenn ein Mann für alle gilt, ja, dann kann diese unbeschwerte Treue existieren, die zu erklären war. Eine derartige Treue ist nicht besonders tugendhaft oder löblich; sie geht nicht aus einer moralischen Forderung hervor; sie hat keinerlei andere Stütze, als den Inhalt der Liebe selbst. Vor allem aber ist sie keine Treue, denn ein jeder, der einen Partner hat, besitzt ipso facto alle Partner, die möglich sind. Es gibt also keine Treue, genauso wenig wie es Untreue gibt.

Hier finden wir schon, wenn auch nicht problematisiert, den Quantor „nicht alles/ pastout“ am Werk, der erst 17 Jahre später von Lacan explizit erschlossen werden wird. Wenn in der Tat „eine für alle“, „einer für alle“ gilt, (aber genau eben nicht im Sinne des kriegerischen Rufs „alle für einen, einer für alle“) dann gibt es ein Spiel zwischen dem „Ein“ und dem „Alle“, das „nicht alle“ impliziert, denn es wird sehr wohl präzisiert, dass dieses „Ein“, dem „Alle“ nicht gleich ist (wie im Schlachtruf), sondern, dass es sich darauf wie auf sein Jenseits bezieht. Wird diesem „Alle“ das „Ein“ entzogen, so ist es ein „Nicht-Alle“. Dieses Jenseits wird sich nun bald als entscheidend erweisen. Man hat es hier in der Tat in der lacanianischen Figur der Liebe mit der allerersten Erscheinung eines Jenseits des Geliebten zu tun.(10) Indem ich eine Frau liebe, liebe ich jenseits von ihr alle Frauen. Indem ich einen Mann liebe, liebe ich jenseits von ihm alle Männer. Eine Frage (die Lacan nicht stellt): was ist dann das Objekt meiner Liebe? Und wie kann man sich nicht darüber wundern (Lacan wundert sich nicht darüber), dass der jeweils Geliebte dabei auf seine Kosten zu kommen scheint? Sicherlich kann er aus diesem Wert, für alle zu gelten, der ihm eingeräumt wird, eine narzisstische Befriedigung ziehen. Wenn aber dennoch der Zufall es wollte, dass seine Forderung wäre „um seiner selbst willen“ geliebt zu werden, dann missglückt das. Wir haben hier ein Durcheinander, angesichts dessen es für das Andauern der Liebe vorzuziehen ist, sich dabei nicht zu lange aufzuhalten (und Lacan hält sich nicht dabei auf). Bald schon wird dieses Jenseits noch anders verkörpert sein, derart, dass es als Funktion (das Wort befindet sich schon im Zitat) des Jenseits gilt, eine Funktion, zu der noch andere Beweisgründe/ arguments hinzukommen als dieses „alle Männer“ oder „alle Frauen“ und die somit ein fundamentaler Bestandteil des Rahmens der Liebe sein wird

(2) Das Seminar von Jacques Lacan, Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Walter, Olten, 1980

(3) Zit. nach Ovid, Liebeskunst, Insel, 1978, Erstes Buch, Zeile 633 – 634 S. 29. Statt des dort gewählten „Meineids eines Verliebten“ wurde „falschen Schwüre Verliebter“, übernommen, aus Ovid Liebeskunst – Heilmittel gegen die Liebe, 4. Auflage, Artemis u. Winkler, 1999, S. 51.

(4) a.a.O., S. 331

(5) engagement/ Verpflichtung f; bindende Zusage; Bindung

(6) ebenda

(7) „des Geliebten“ unterscheidet im Text nicht männlich – weiblich, sondern nimmt die männliche Form, um den Gegensatz der Positionen von Liebenden und Geliebten zu bezeichnen.

(8) proprement parler/ genau genommen/ im eigentlichen/ engeren Sinn 

(9) a.a.O. S. 332

(10) Tatsächlich ging es schon in der letzten Sitzung des Seminars Die technischen Schriften, Seminar I um die Frage eines „jenseits“. Lacan präzisiert jedoch sofort das dieses „jenseits“ „eine gewisse Entwicklung des anderen“ sei. Es gibt bei Lacan ein „Jenseits“ nur, wenn es sich klar von dem unterscheidet, in Bezug auf das es „jenseits“ ist. Das ist hier der Fall.